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Kleine Änderungen in Gesetzen können große Erleichterungen für die medizinische Forschung in Deutschland bewirken

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1. Einführung

Der europäische Gesetzgeber hat die Bedeutung der Forschung für die Allgemeinheit erkannt und deshalb innerhalb der DS-GVO ein Forschungsprivileg vorgesehen. Aus diesem Grund wird in dem zwischen dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung einerseits und der Forschungsfreiheit andererseits auftretenden Grundrechtskonflikt die Forschungsfreiheit im Vergleich zu den anderen Verarbeitungszwecken an unterschiedlichen Stellen der DS-GVO bessergestellt. Die zentrale Norm für die Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung zu wissenschaftlichen Forschungszwecken stellt Art. 9 Abs. 2 lit. j DS-GVO dar. Gestützt auf diese Vorschrift dürfen die Mitgliedstaaten im nationalen Recht datenschutzrechtliche Forschungsklauseln normieren. In Deutschland gelten viele verschiedene landes- und bundesrechtlichen Regelungen als Ausprägungen des Art. 9 Abs. 2 lit. j DS-GVO. Die Datenverarbeitung zu wissenschaftlichen Forschungszwecken kann also durch unterschiedliche Forschungsklauseln gerechtfertigt werden, die in zersplitterter Weise im Landes- und Bundesrecht verteilt und tendenziell nicht besonders forschungsfreundlich sind. Zudem weisen die Forschungsklauseln innerhalb des deutschen Rechts Zugangsbeschränkungen auf, die in dieser Form nicht der DS-GVO zu entnehmen sind. Um dem in der DS-GVO umgesetzten Forschungsprivileg gerecht zu werden, müssen deshalb in Deutschland die Forschungsklauseln geändert und an das Forschungsverständnis der DS-GVO angepasst werden.

2. Auswirkungen des Entwurfs der European-Health-Data-Space-Verordnung

Das Erfordernis der Neuregulierung der datenschutzrechtlichen Forschungsklauseln wird auch durch den Entwurf der European-Health-Data-Space-Verordnung (EHDS-VO) vom 3. Mai 2022 nicht ersetzt. Wie im Rahmen unserer Präsentation vom 9. Juli 2022 bei der dritten Sitzung des AG 3 ausgeführt, ist es die Absicht des Entwurfs, nationale Sonderregelungen wie die unten aufgeführten weitestgehend zu verdrängen. Diese wären daher nach unserer Auffassung bei Anwendbarkeit der EHDS-VO entsprechend abzuschaffen oder anzupassen. Aufgrund der verbleibenden Unsicherheiten im Verhältnis zur DS-GVO und der potentiell noch langen Zeitdauer, bis die EHDS-VO Anwendung findet, ist es weiter angezeigt, das nationale Recht mit den Grundsätzen der DS-GVO zur Förderung der Forschung und im Einklang mit den Ansätzen der EHDS-VO zu reformieren. Die Gesetzesbegründen sollten daher auch um Verweise zur EHDS-VO ergänzt werden.

3. Hinweis zum Umgang mit den Voraussetzungen für Zweckänderungen (Art. 6 Abs. 4 DS-GVO)

Eine in der Praxis bisher wenig genutzte Möglichkeit, personenbezogene Daten für Forschungszwecke zu nutzen, findet sich in Art. 6 Abs. 4 DS-GVO. In diesem Abschnitt erläutern wir, warum auf diese Möglichkeit bei den Reformvorschlägen nicht weiter eingegangen wird:

Für den Fall, dass personenbezogene Daten zu einem anderen Zweck verarbeitet werden sollen als dem, zu dem sie ursprünglich erhoben wurden, regelt Art. 6 Abs. 4 DS-GVO Folgendes:

"Beruht die Verarbeitung zu einem anderen Zweck als zu demjenigen, zu dem die personenbezogenen Daten erhoben wurden, nicht auf der Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer Rechtsvorschrift der Union oder der Mitgliedstaaten, die in einer demokratischen Gesellschaft eine notwendige und verhältnismäßige Maßnahme zum Schutz der in Artikel 23 Absatz 1 genannten Ziele darstellt, so berücksichtigt der Verantwortliche – um festzustellen, ob die Verarbeitung zu einem anderen Zweck mit demjenigen, zu dem die personenbezogenen Daten ursprünglich erhoben wurden, vereinbar ist – unter anderem […]"

Die Anschlussnutzung personenbezogener Daten zu Forschungszwecken stellt regelmäßig eine Zweckänderung nach Art. 6 Abs. 4 DS-GVO dar.

Sofern keine Einwilligung vorliegt oder ein Gesetz die Zweckänderung erlaubt, ist die Zweckänderung nur zulässig, wenn die neuen Zwecke (hier: der Forschung) als mit den ursprünglichen Zwecken vereinbar angesehen werden.

Über die "Vereinbarkeit" der Zwecke besteht Rechtsunsicherheit, obwohl Erwägungsgrund 50 S. 4 DS-GVO ausdrücklich festhält: "Die Weiterverarbeitung für im öffentlichen Interesse liegende Archivzwecke, für wissenschaftliche oder historische Forschungszwecke oder für statistische Zwecke sollte als vereinbarer und rechtmäßiger Verarbeitungsvorgang gelten."

Diese Rechtsunsicherheit dürfte sich allerdings nicht durch eine nationale Regelung beseitigen lassen. Denn Art. 6 Abs. 4 DS-GVO ist europarechtlich autonom auszulegen. Für eine nationalgesetzliche "Auslegungsregelung" wäre nur Raum, wenn eine entsprechende Öffnungsklausel vorhanden wäre. Die Öffnungsklausel des Art. 9 Abs. 4 DS-GVO gestattet Mitgliedstaaten nur "zusätzliche Bedingungen, einschließlich Beschränkungen" einzuführen, wobei die Klarstellung zu Art. 6 Abs. 4 DS-GVO schwerlich als "zusätzliche Bedingung oder Beschränkung" einzuordnen sein dürfte.

Vor diesem Hintergrund erscheint vorzugswürdig, keine ausdrückliche Regelung zur Auslegung von Art. 6 Abs. 4 DS-GVO vorzuschlagen. Vielmehr sollte die Begründung des vorgeschlagenen Gesetzes klarstellen, dass (auch) aus nationaler Sicht davon ausgegangen wird, dass für eine mit Forschungsvorhaben einhergehende Zweckänderung stets die Zweckkompatibilität vorliegt. Zur weiteren europarechtlichen Untermauerung sollte in diesem Zusammenhang auf Erwägungsgrund 50 S. 4 DS-GVO verwiesen werden.

Bundesrechtliche Vorschriften

§ 64e Abs. 11 S. 1 SGB V

Aktueller Gesetzestext

„Nutzungsberechtigte sind die Leistungserbringer, die Vertragspartner nach Absatz 1 Satz 1 sind, Hochschulen, die nach landesrechtlichen Vorschriften anerkannten Hochschulkliniken, öffentlich geförderte außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und sonstige öffentliche Einrichtungen mit der Aufgabe unabhängiger wissenschaftlicher Forschung, sofern die Daten wissenschaftlichen Vorhaben dienen.“

Kritik

Die Beschränkung der Nutzungsberechtigten wird weder dem Forschungsprivileg der DS-GVO noch dem Forschungsbegriff des Grundgesetzes gerecht. Diese unterscheiden nicht zwischen öffentlichen und privaten Einrichtungen, die die Forschung betreiben (vgl. insb. EG 159 der DS-GVO). Entscheidend ist lediglich, dass die Anforderungen an ein Forschungsvorhaben erfüllt werden. Aus diesem Grund sollte § 64e Abs. 11 SGB V keine einrichtungsbezogene Einschränkung der Nutzung vorsehen. Vielmehr sollte in Übereinstimmung mit dem Gesetz zur Zusammenführung von Krebsregisterdaten Forschung für jede Einrichtung (privat oder öffentlich) möglich sein.

Regelungsvorschlag

Einfügung eines neuen Satz 2: „Nutzungsberechtigte sind ferner private Einrichtungen und Personen, denen der Träger der Dateninfrastruktur auf Antrag Zugriff auf die Daten zu wissenschaftlichen Forschungszwecken gewährt, soweit

  1. im Antrag nachvollziehbar dargelegt ist, dass der Umfang und die Struktur der beantragten Daten geeignet und erforderlich sind, um die zu untersuchenden Fragen zu beantworten, und
  2. das im Antrag angegebene Vorhaben mit den vorliegenden Daten bearbeitet werden kann.“

§ 303e Abs. 1 S. 1 SGB V

Aktueller Gesetzestext

„Das Forschungsdatenzentrum macht die ihm vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen und von der Vertrauensstelle übermittelten Daten nach Maßgabe der Absätze 3 bis 6 folgenden Nutzungsberechtigten zugänglich, soweit diese nach Absatz 2 zur Verarbeitung der Daten berechtigt sind: (…)“

Kritik

In § 303e Abs. 1 SGB V ist ein einrichtungsbezogenes Zugriffsrecht auf die Daten im Forschungsdatenzentrum nach § 303d SGB V vorgesehen. Die Beschränkung des Zugangs auf die in § 303e Abs. 1 SGB V genannten Nutzungsberechtigten wird weder dem Forschungsprivileg der DS-GVO noch dem Forschungsbegriff des Grundgesetzes gerecht. Diese unterscheiden nämlich nicht zwischen Einrichtungen, die die Forschung betreiben (vgl. insb. EG 159 der DS-GVO). Entscheidend ist lediglich, dass die Anforderungen an ein Forschungsvorhaben erfüllt werden. Aus diesem Grund sollte § 303e Abs. 1 SGB V keine einrichtungsbezogene Einschränkung der Datenzugangsmöglichkeiten vorsehen.

Regelungsvorschlag

Anpassung des § 303e Abs. 1 SGB V: „Das Forschungsdatenzentrum macht die ihm vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen und von der Vertrauensstelle übermittelten Daten nach Maßgabe der Absätze 3 bis 6 öffentlichen Einrichtungen sowie sonstigen natürlichen oder juristischen Personen des Privatrechts (Nutzungsberechtigte) zugänglich.“

§ 303e Abs. 2 SGB V

Aktueller Gesetzestext

„Soweit die Datenverarbeitung jeweils für die Erfüllung von Aufgaben der nach Absatz 1 Nutzungsberechtigten erforderlich ist, dürfen die Nutzungsberechtigten Daten für folgende Zwecke verarbeiten: „…)“

Kritik

Da die Datenverarbeitung auf öffentliche Stellen beschränkt ist, bezieht sich Abs. 2 lediglich auf Aufgaben im Sinne des Gesetzesvorbehaltes für das Verwaltungshandeln. Soweit die Datennutzung auf private Einrichtungen erweitert wird, sollte die Terminologie auf „Vorhaben“ angepasst werden.

Regelungsvorschlag

Anpassung des § 303e Abs. 2 SGB V:
„Soweit die Datenverarbeitung jeweils für die Erfüllung der Vorhaben der nach Absatz 1 Nutzungsberechtigten erforderlich ist, dürfen die Nutzungsberechtigten Daten für folgende Zwecke verarbeiten: (…)“

Anregung 1: Sollten wir den Zugriff für “private Stellen” nicht auf Forschungszwecke (also 303e Abs. 2 Nr. 4 SGB V) beschränken? Andere Zwecke des Abs. 2 sind für private Einrichtungen politisch wohl nicht gewollt und auch nicht Gegenstand dieser Initiative.
Anregung 2: TBD, ob wir den Katalog von zulässigen Zwecken aus Art. 34 lit. d.h. EHDS-VO aufnehmen. Vorteil wäre, dass ein restriktiver Zugriff durch restriktive Interpretationen des Forschungsbegriffes vermieden wird. Nachteil natürlich, dass die politische Durchschlagskraft des Vorstoßes leiden kann, wenn “zu viele” Zwecke in als sensiblen Bereichen wahrgenommenen Regelungswerken wie dem SGB V als Ausnahmebestimmungen aufgenommen werden.

§ 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Datentransparenz-Verordnung

Aktueller Gesetzestext

Das Forschungsdatenzentrum prüft die Anträge zur Datenverarbeitung dahingehend, ob

3. die Datenverarbeitung nach § 303e Absatz 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch jeweils für die Erfüllung von Aufgaben der nach § 303e Absatz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch Nutzungsberechtigten erforderlich ist, (…)“

Kritik

Ein gleiches gilt für die Datentransparenzverordnung, die sich in § 8 auf den Wortlaut im Sozialgesetzbuch bezieht.

Regelungsvorschlag

Anpassung § 8 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3:
„Das Forschungsdatenzentrum prüft die Anträge zur Datenverarbeitung dahingehend, ob

3. die Datenverarbeitung nach § 303e Absatz 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch jeweils für die Erfüllung der Vorhaben der nach § 303e Absatz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch Nutzungsberechtigten erforderlich ist, (…)“

§ 363 Abs. 4 i.V.m. § 303e SGB V

Aktueller Gesetzestext

„Die an das Forschungsdatenzentrum freigegebenen Daten dürfen von diesem für die Erfüllung seiner Aufgaben verarbeitet und auf Antrag den Nutzungsberechtigten nach § 303e Absatz 1 Nummer 6, 7, 8, 10, 13, 14, 15 und 16 bereitgestellt werden. § 303a Absatz 3, § 303c Absatz 1 und 2, die §§ 303d, 303e Absatz 3 bis 6 sowie § 303f gelten entsprechend.

Kritik

§ 363 Abs. 4 SGB V bezieht sich auf die aktuelle Regelung des § 303e Abs. 1 SGB V und trifft noch weitere Einschränkungen hinsichtlich des Zugangsrechts auf die Daten aus den elektronischen Patientenakten. Diese Regelung stimmt aus gleichen Gründen wie bezüglich § 303e Abs. 1 SGB V nicht mit dem Forschungsprivileg der DS-GVO sowie mit dem weiten Verständnis der Forschung in Art. 5 Abs. 3 GG überein (vgl. o.).

Regelungsvorschlag

Nach Anpassung des § 303e Abs. 1 SGB V gem. o.a. Vorschlag ist nur folgende Änderung des § 363 Abs. 4 S. 1 SGB V erforderlich:
„Die an das Forschungsdatenzentrum freigegebenen Daten dürfen von diesem für die Erfüllung seiner Aufgaben verarbeitet und auf Antrag den Nutzungsberechtigten nach § 303e Absatz 1 Nummer 6, 7, 8, 10, 13, 14, 15 und 16 bereitgestellt werden.“

Falls § 303e Abs. 1 SGB V nicht geändert wird, ist der Verweis auf Abs. 1 nicht ausreichend und daher folgende Anpassung des § 363 Abs. 4 S. 1 SGB V erforderlich:
„Die an das Forschungsdatenzentrum freigegebenen Daten dürfen von diesem für die Erfüllung seiner Aufgaben verarbeitet und auf Antrag öffentlichen und privaten Einrichtungen und Personen zu wissenschaftlichen Forschungszwecken bereitgestellt werden.“

§ 206 Abs. 5 SGB VII

Aktueller Gesetzestext

§ 206 Verarbeitung von Daten für die Forschung zur Bekämpfung von Berufskrankheiten
(1) Ein Arzt oder Angehöriger eines anderen Heilberufes ist befugt, für ein bestimmtes Forschungsvorhaben personenbezogene Daten den Unfallversicherungsträgern und deren Verbänden zu übermitteln, wenn die nachfolgenden Voraussetzungen erfüllt sind und die Genehmigung des Forschungsvorhabens öffentlich bekanntgegeben worden ist. […]
(2) Die Unfallversicherungsträger und ihre Verbände dürfen Sozialdaten von Versicherten und früheren Versicherten verarbeiten, soweit dies

  1. zur Durchführung eines bestimmten Forschungsvorhabens, das die Erkennung neuer Berufskrankheiten oder die Verbesserung der Prävention oder der Maßnahmen zur Teilhabe bei Berufskrankheiten zum Ziele hat, erforderlich ist und
  2. der Zweck dieses Forschungsvorhabens nicht auf andere Weise, insbesondere nicht durch Verarbeitung anonymisierter Daten, erreicht werden kann.
    (5) Führen die Unfallversicherungsträger oder ihre Verbände das Forschungsvorhaben nicht selbst durch, dürfen die Daten nur anonymisiert an den für das Forschungsvorhaben Verantwortlichen übermittelt werden. Ist nach dem Zweck des Forschungsvorhabens zu erwarten, dass Rückfragen für einen Teil der Betroffenen erforderlich werden, sind sie an die Person zu richten, welche die Daten gemäß Absatz 1 übermittelt hat. Absatz 2 gilt für den für das Forschungsvorhaben Verantwortlichen entsprechend. Die Absätze 3 und 4 gelten entsprechend

Kritik

Der Wortlaut könnte so zu verstehen sein, dass Initiative für Forschungsvorhaben von Unfallversicherungsträger oder deren Verbänden ausgehen muss und die privaten nur als "Auftragnehmer"/Umsetzende eingeschaltet werden dürfen, wenn auch in eigener Verantwortung. Dies könnte klargestellt werden. Kein Problem dürfte dagegen die (zunächst) bloß anonyme Datenübermittlung in Abs. 5 sein: Der Wortlaut verweist auf Abs. 2, der bei dort geregelter Erforderlichkeit auch die Verarbeitung von (nicht anonymen) Sozialdaten gestattet.

Regelungsvorschlag

Umformulierung Abs. 5: (5) Führen die Unfallversicherungsträger oder ihre Verbände das Forschungsvorhaben nicht selbst durch oder wird der für das Forschungsvorhaben Verantwortliche auf eigene Initiative tätig, dürfen die Daten nur anonymisiert an den für das Forschungsvorhaben Verantwortlichen übermittelt werden.

§ 75 Abs. 1 Satz 1 SGB X

Aktueller Gesetzestext

„Eine Übermittlung von Sozialdaten ist zulässig, soweit sie erforderlich ist für ein bestimmtes Vorhaben

  1. der wissenschaftlichen Forschung im Sozialleistungsbereich oder der wissenschaftlichen Arbeitsmarkt- und Berufsforschung oder
  2. der Planung im Sozialleistungsbereich durch eine öffentliche Stelle im Rahmen ihrer Aufgaben
    und schutzwürdige Interessen der betroffenen Person nicht beeinträchtigt werden oder das öffentliche Interesse an der Forschung oder Planung das Geheimhaltungsinteresse der betroffenen Person erheblich überwiegt.“

Kritik

Entsprechend § 27 BDSG: Der unbestimmte Begriff des „erheblichen“ Überwiegens führt zur Gefahr einer übermäßig restriktiven Einschränkung der Anwendbarkeit des § 27 Abs. 1. Der Bundesrat hatte bereits empfohlen, diesen Begriff zu streichen (BR-Drs. 110/1/17, 34) und eine praxisgerechtere Anwendung vorgeschlagen (BT-Drs. 18/11655, 15 f.), weil den Interessen der Betroffenen bereits durch Verweis auf § 22 Abs. 2, das „überwiegende Interesse und der Erforderlichkeit der Datenverarbeitung für den Forschungs- oder Statistikzweck“ Rechnung getragen wird. Auch Art. 9 Abs. 2 DS-GVO verlangt kein erhebliches Überwiegen der Interessen des Verantwortlichen (BT-Drs. 18/11655, 15 f.). Die Bundesregierung hatte den Vorschlag des Bundesrats abgelehnt, weil „die beabsichtigte Regelung geltendem Recht entspräche“ (BT-Drs. 18/11655, 31). Diese Anpassung sollte daher erneut initiiert werden.
Anregung: Ziffer 1 gem. Regelungsvorschlag anpassen, um generell medizinische Forschung zu gestatten, nicht nur beschränkt auf den “Sozialleistungsbereich”.

(Die Ergänzung sollten wir auch für andere ähnliche Bestimmungen im SGB diskutieren.)

Regelungsvorschlag

Eine Übermittlung von Sozialdaten ist zulässig, soweit sie erforderlich ist für ein bestimmtes Vorhaben

  1. der wissenschaftlichen Forschung im Sozialleistungsbereich, im Bereich der Medizin oder Gesundheit oder der wissenschaftlichen Arbeitsmarkt- und Berufsforschung oder
  2. der Planung im Sozialleistungsbereich durch eine öffentliche Stelle im Rahmen ihrer Aufgaben
    und schutzwürdige Interessen der betroffenen Person nicht beeinträchtigt werden oder das öffentliche Interesse an der Forschung oder Planung das Geheimhaltungsinteresse der betroffenen Person erheblich überwiegt.“

§ 75 Abs. 1 Satz 2 SGB X

Aktueller Gesetzestext

"Eine Übermittlung ohne Einwilligung der betroffenen Person ist nicht zulässig, soweit es zumutbar ist, ihre Einwilligung einzuholen."

Kritik

Es wird eine Zumutbarkeitsprüfung hinsichtlich der Einholung der Einwilligung vorausgesetzt. Die Anforderung bringt Verwaltungsaufwand mit sich und ist realistischerweise oft nicht zu erfüllen.

Anregung: Streichen, das war eine Voraussetzung, die faktisch auch im § 28 Abs. 6 Nr. 3 BDSG a.F. (“und der Zweck der Forschung auf andere Weise nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand erreicht werden kann”) enthalten war und nicht in den § 27 Abs. 1 BDSG übernommen wurde.

Regelungsvorschlag

Streichung von § 75 Abs. 1 Satz 2 SGB X.

§ 75 Abs. 4 Satz 1 SGB X

Aktueller Gesetzestext

„Die Übermittlung nach Absatz 1 und die weitere Verarbeitung sowie die Übermittlung nach Absatz 2 bedürfen der vorherigen Genehmigung durch die oberste Bundes- oder Landesbehörde, die für den Bereich, aus dem die Daten herrühren, zuständig ist.“

Kritik

Auch hier stellt sich die Frage, ob dies erforderlich und angesichts des Verwaltungsaufwands zu forschungsfeindlich ist. Hieraus resultieren unnötige Verzögerungen.
Wir regen daher die Streichung an.

Regelungsvorschlag

Streichung von § 75 Abs. 4 Satz 1 SGB X

§ 119 S. 1 SGB XII

Aktueller Gesetzestext

„Der Träger der Sozialhilfe darf einer wissenschaftlichen Einrichtung, die im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ein Forschungsvorhaben durchführt, das dem Zweck dient, die Erreichung der Ziele von Gesetzen über soziale Leistungen zu überprüfen oder zu verbessern, Sozialdaten übermitteln, soweit

  1. dies zur Durchführung des Forschungsvorhabens erforderlich ist, insbesondere das Vorhaben mit anonymisierten oder pseudoanonymisierten Daten nicht durchgeführt werden kann, und
  2. das öffentliche Interesse an dem Forschungsvorhaben das schutzwürdige Interesse der Betroffenen an einem Ausschluss der Übermittlung erheblich überwiegt.“

Kritik

Beschränkung auf Forschungsvorhaben im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales schränkt die Forschungsfreiheit anderer Forscher ohne einen sachlichen Grund ein. Auch sonstige Forschungsvorhaben könnten und sollten – unabhängig von ihrer Finanzierungsquelle – im öffentlichen Interesse mit Daten i.S.d. § 119 SGB XII durchgeführt werden.

Regelungsvorschlag

Anpassung des § 119 S. 1 SGB XII:
„Der Träger der Sozialhilfe darf einer wissenschaftlichen Einrichtung, die im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ein Forschungsvorhaben durchführt, das dem Zweck dient, die Erreichung der Ziele von Gesetzen über soziale Leistungen zu überprüfen oder zu verbessern, Sozialdaten übermitteln, soweit

  1. dies zur Durchführung des Forschungsvorhabens erforderlich ist, insbesondere das Vorhaben mit anonymisierten oder pseudoanonymisierten Daten nicht durchgeführt werden kann, und
  2. das öffentliche Interesse an dem Forschungsvorhaben das schutzwürdige Interesse der Betroffenen an einem Ausschluss der Übermittlung erheblich überwiegt.“

§ 27 Absatz 1 Satz 1 BDSG

Aktueller Gesetzestext

„Abweichend von Artikel 9 Absatz 1 der Verordnung (EU) 2016/679 ist die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten im Sinne des Artikels 9 Absatz 1 der Verordnung (EU) 2016/679 auch ohne Einwilligung für wissenschaftliche oder historische Forschungszwecke oder für statistische Zwecke zulässig, wenn die Verarbeitung zu diesen Zwecken erforderlich ist und die Interessen des Verantwortlichen an der Verarbeitung die Interessen der betroffenen Person an einem Ausschluss der Verarbeitung erheblich überwiegen.“

Kritik

Der unbestimmte Begriff des „erheblichen“ Überwiegens führt zur Gefahr einer übermäßig restriktiven Einschränkung der Anwendbarkeit des § 27 Abs. 1. Der Bundesrat hatte bereits empfohlen, diesen Begriff zu streichen (BR-Drs. 110/1/17, 34) und eine praxisgerechtere Anwendung vorgeschlagen (BT-Drs. 18/11655, 15 f.), weil den Interessen der Betroffenen bereits durch Verweis auf § 22 Abs. 2, das „überwiegende Interesse und der Erforderlichkeit der Datenverarbeitung für den Forschungs- oder Statistikzweck“ Rechnung getragen wird. Auch Art. 9 Abs. 2 DS-GVO verlangt kein erhebliches Überwiegen der Interessen des Verantwortlichen (BT-Drs. 18/11655, 15 f.). Die Bundesregierung hatte den Vorschlag des Bundesrats abgelehnt, weil „die beabsichtigte Regelung geltendem Recht entspräche“ (BT-Drs. 18/11655, 31). Diese Anpassung sollte daher erneut initiiert werden.

Regelungsvorschlag

Streichung des Wortes „erheblich“ in Satz 1:

„Abweichend von Artikel 9 Absatz 1 der Verordnung (EU) 2016/679 ist die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten im Sinne des Artikels 9 Absatz 1 der Verordnung (EU) 2016/679 auch ohne Einwilligung für wissenschaftliche oder historische Forschungszwecke oder für statistische Zwecke zulässig, wenn die Verarbeitung zu diesen Zwecken erforderlich ist und die Interessen des Verantwortlichen an der Verarbeitung die Interessen der betroffenen Person an einem Ausschluss der Verarbeitung erheblich überwiegen.“

§ 203 StGB

Aktueller Gesetzestext

„(1) Wer unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis oder ein Betriebs- oder Geschäftsgeheimnis, offenbart, das ihm als

  1. Arzt, Zahnarzt, Tierarzt, Apotheker oder Angehörigen eines anderen Heilberufs, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert,
    […]
    anvertraut worden oder sonst bekanntgeworden ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft."

Kritik

Die strafrechtlich flankierte Schweigepflicht der Ärzte und anderer Berufsgeheimnisträger steht der Weitergabe personenbezogener Daten zu Forschungszwecken im Falle privater Behandlungsverträge (etwa im Falle der privatärztlichen Versorgung in Einzelpraxen, MVZ oder Krankenhäusern aber auch von Daten, die bei privaten Laboren gesammelt werden) entgegen.

Um auch diesen die Datenbereitstellung zu Forschungszwecken rechtssicher zu ermöglichen, sollte eine Bereichsausnahme von der Geheimhaltungspflicht eingeführt werden, die auch die Strafbarkeit aufhebt.

Regelungsvorschlag

Konkretes Regelungsvorgehen ist zu besprechen (Änderung § 27 BDSG und - mit Blick auf § 1 Abs. 2 BDSG Vorrang § 27 BDSG gegenüber § 9 MBO-Ärzte schaffen oder Regelung in§§ 630a ff BGB). Hinsichtlich der Voraussetzungen, Berechtigten und der Nutzungszwecke konnte sich die in § 27 BDSG zu ergänzende Regelung im Ausgangspunkt an dem (wie oben vorgeschlagen) anzupassenden § 303e 5GB V orientieren.

Disclaimer:

Das vorliegende Gutachten wurde im Rahmen der Bearbeitung der Roadmap Gesundheitsdatennutzung Baden-Württemberg des Forums Gesundheitsstandort Baden-Württemberg im Auftrag der BIOPRO Baden-Württemberg GmbH durch die Kanzleien Dierks+Company Rechtsanwaltsgesellschaft mbH und CMS Hasche Sigle erstellt. Ziel des Gutachtens ist es, auf die Datenschutzgrundverordnung (DS-GVO) gestützte datenschutzrechtliche Forschungsklauseln zu identifizieren, die Zugangsbeschränkungen aufweisen, die in der DS-GVO nicht angelegt sind und Änderungsvorschläge zu erarbeiten, wie diese angepasst werden könnten. Bei den hier erarbeiteten Änderungsvorschlägen handelt es sich um die fundierte Meinung der Autoren. Diese spiegeln nicht zwingend die Meinung des Forums Gesundheitsstandort Baden-Württemberg wider. Weitere lnformationen zum Forum und zur Roadmap Gesundheitsdatennutzung, siehe Forum Gesundheitsstandort BW.

1RoBnagel A., Datenschutz in der Forschung, ZD 2019, 157 (159).

2Vgl. Dierks et al., Lösungsvorschläge für ein neues Gesundheitsforschungsdatenschutzrecht in Bund und Ländern, S. 11.